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    La Vérité – Leben und lügen lassen
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    La Vérité – Leben und lügen lassen

    Eine Liebeserklärung an die Menschen und das Kino

    Von Björn Becher

    Aus dem Rahmen fallende Familienbeziehungen stehen immer wieder im Zentrum der Filme des Ausnahmeregisseurs Hirokazu Kore-eda: von den vier sich selbst überlassenen Geschwistern in „Nobody Knows“, der Geschichte um verwechselte Kinder in „Like Father, Like Son“ bis hin zur ungewöhnlichen Diebes-Wohngemeinschaft im Goldene-Palme-Gewinner „Shoplifters“, der in Deutschland nicht von ungefähr den Untertitel „Familienbande“ trägt. Seinem Lieblingsthema bleibt der japanische Filmemacher nun auch bei seiner ersten fremdsprachigen Produktion außerhalb seiner Heimat treu – und zwar, ohne sich in „La Vérité“ einfach nur zu wiederholen. Getragen von zwei französischen Leinwandlegenden gelingt Kore-eda das Kunststück, im selben Moment die Magie des großen französischen Schauspieler-Kinos zu feiern und trotzdem eine unglaublich intime, oft wunderbar humorvolle Geschichte zwischen Wahrheit und erfundener Wahrheit zu erzählen.

    Gemeinsam mit ihrem aktuellen Lebensgefährten und ihrem seit 40 Jahren treuen Assistenten lebt die französische Filmlegende Fabienne (Catherine Deneuve) auf ihrem herrschaftlichen Anwesen Mitten in Paris. Weil die Star-Schauspielerin gerade ihre Biografie veröffentlicht, kommt ihre entfremdete, eigentlich in New York lebende Tochter Lumir (Juliette Binoche) samt Ehemann (Ethan Hawke) und der gemeinsamen kleinen Tochter Charlotte (Clémentine Grenier) zu Besuch. Obwohl Fabiennes Buch „La Vérité“ (= die Wahrheit) heißt, erkennt Lumir schnell, dass vieles in der Biographie ganz anders beschrieben ist, als es ihrer Erinnerung nach wirklich passiert ist. Vor allem was ihre Beziehung zu ihrer Tochter angeht, lässt sich Fabienne selbst doch in einem erstaunlich strahlenden Licht dastehen. So stehen sofort alle Zeichen auf Konfrontation, zugleich muss Lumir ihrer Mutter aber auch noch bei ihrem neuen Dreh zur Hand gehen: einer Adaption der Kurzgeschichte „Memories Of My Mother“ des preisgekrönten Sci-Fi-Autors Ken Liu, die sogar von einer noch komplizierteren Mutter-Tochter-Beziehung erzählt.

    Familienbesuch.

    Hirokazu Kore-eda ist bekannt dafür, Schauspieler brillieren zu lassen, sie von ihrer besten Seite zu zeigen. Das ist bei Catherine Deneuve und Juliette Binoche nun sicherlich sehr viel einfacher als bei anderen Darstellerinnen, aber trotzdem nimmt sich Kore-eda immer wieder auch bewusst zurück, um seinen Hauptdarstellerinnen die nötige Bühne für ihr Spiel zu lassen. Die Kamera fängt oft vor allem die Darsteller ein, was insbesondere Deneuve für eine ihrer besten Leistungen seit langer Zeit nutzt. Die Schauspiellegende hat sichtlich Spaß daran, eine überzeichnete Version ihrer selbst zu spielen. So straft sie ihren TV-Star-Schwiegersohn mit Verachtung und den Nachwuchsregisseur ihres neuen Projekts mit totaler Ignoranz.

    Statt von „Belle De Jour – Schöne des Tages“ hängt ein Plakat des fiktiven Films „Belle De Paris – Schöne von Paris“ im Anwesen von Fabienne - und bei der Nennung von Brigitte Bardot rümpft sie nur verächtlich mit der Nase (schließlich stand die Frage Deneuve oder Bardot für Cinephile jahrzehntelang auf derselben Stufe wie Beatles oder Stones). An einigen Stellen mag es Hirokazu Kore-eda mit solchen augenzwinkernden Referenzen fast schon zu weit treiben, aber das macht er durch die mystische Aura wieder wett, die er um Fabienne herum entstehen lässt. Es verwundert jedenfalls nicht, dass die kleine Enkelin sofort glaubt, dass ihre Oma eine Hexe ist, die ihren Ex-Mann Pierre in einer Schildkröte verwandelt hat, die nun im Garten durchs Unterholz krabbelt. Als der dann eines Tages überraschend doch in menschlicher Gestalt (Roger Van Hool) vor der Tür steht, hat er dann auch Blätter im zerzausten Haar – und von der Schildkröte fehlt mit einem Mal jede Spur.

    Ein Film-im-Film und Paris am Rande

    Ansonsten gibt es Fantasy aber nur in der Sci-Fi-Geschichte des Films im Film, der zudem den emotionalen Kern des Mutter-Tochter-Verhältnisses ziemlich geschickt auf den Kopf stellt: Fabienne spielt eine 73-jährige Frau, deren eigene Mutter inzwischen sehr viel jünger ist, weil sie im All nicht altert und nur alle sieben Jahre auf der Erde vorbeischaut. Im Rahmen der Ausflüge ans Set wird zwar auch mit Spitzen und Pointen vom Wandel des Filmemachens in den vergangenen Jahrzehnten erzählt (inklusive einer überflüssigen Nebengeschichte um eine von Ludivine Sagnier verkörperte unsichere Jungschauspielerin), aber dann geht es doch immer wieder schnell zur zentralen Beziehung im Zentrum zurück.

    Da muss dann nicht nur ein Ethan Hawke („Before Sunrise“) zurückstecken, sondern auch der Schauplatz. Obwohl „La Vérité“ in Paris gedreht wurde und auch ein Sci-Fi-Film-Set eine wichtige Rolle spielt, nutzt der Regisseur die sich dadurch eigentlich ergebenden Möglichkeiten kaum, sondern zeigt uns fast zum Hohn erst im Abspann den deutlichsten Paris-Moment. Weite Teile des Films spielen sich dagegen in nur wenigen Räumen von Fabiennes Anwesen ab. Aber das passt ja wie gesagt auch: Hier können die Darsteller ganz frei und ohne jede Ablenkung ihre Brillanz zeigen.

    Sehr selten sind wir in den Straßen der Stadt.

    Wenn die verdrängten Konflikte zwischen den Figuren langsam wieder an die Oberfläche drängen, wird dabei ständig auch um die titelgebende Wahrheit gerungen – die dann übrigens nicht so offensichtlich ist, wie es am Anfang noch scheint. Dass die eigene Erinnerung trügen kann, wird schließlich nicht ohne Grund mehrfach erwähnt. Und wie wichtig ist es überhaupt, immer die womöglich harte Wahrheit zu erfahren, wo doch eine gut gemeinte Lüge vielleicht viel mehr über die wahre Zuneigung eines Familienmitgliedes aussagen kann? Gerade wenn Mutter und Tochter eine Schauspiellegende und eine professionelle Drehbuchautorin sind und ihr jeweiliges Handwerk ganz hervorragend verstehen…

    Immer wenn es um dieses zentrale Thema geht, ist „La Vérité“ am stärksten. Hier hat auch der teilweise an den Rand gedrängte Ethan Hakwe seine besten Momente – besonders im Zusammenspiel mit seiner Filmtochter. So abweisend sich die beiden Hauptdarstellerinnen zu Beginn auch gegenüberstehen, so viel Spaß macht es dann auch, die langsame Annäherung zwischen ihnen zu beobachten. Denn dass am Ende ein Happy End steht, ist bei Hirokazu Kore-eda nicht zu viel verraten. Er ist einer der ganz großen Humanisten des aktuellen Weltkinos, was er – teilweise wieder mit der ihm eigenen Leichtfüßigkeit – nun das erste Mal auch in einer ihm fremden Sprache beweist. Wobei „La Vérité“ nicht nur eine Liebeserklärung an die Menschen ist, sondern eben auch an das Kino - Kore-eda hat sich Paris und die französische Sprache seiner persönlichen Regie-Idole ganz sicher nicht zufällig für seinen ersten Auslandsfilm ausgesucht.

    Fazit: Hirokazu Kore-eda erzählt mit „La Vérité“ eine von zwei herausragenden Hauptdarstellerinnen getragene, ebenso berührende wie humorvolle Mutter-Tochter-Geschichte.

    Wir haben „La Vérité“ beim Filmfestival in Venedig gesehen, wo er als Eröffnungsfilm des Wettbewerbs gezeigt wurde.

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