Mein Konto
    FILMSTARTS-Meinung: Warum eine zweite Staffel von „Tote Mädchen lügen nicht“ ziemlicher Schwachsinn ist!

    In diesem Format schreiben FILMSTARTS-Redakteure über Dinge, die sie gerade ganz besonders begeistern – oder die ihnen ziemlich auf den Wecker gehen...

    Netflix

    Achtung, Spoiler zur ersten Staffel „Tote Mädchen lügen nicht“!

    Das Prinzip ist ja nicht neu: Ein Film oder eine Serie avanciert zum überraschenden Publikumshit – und zack, schon ist eine Fortsetzung beschlossene Sache (selbst wenn es noch keine konkrete Idee dafür gibt)! Warum auch nicht die Kuh noch ein bisschen melken, solang sie Milch gibt. Aber ergibt das in jedem Fall Sinn? Auch im speziellen Fall von „Tote Mädchen lügen nicht“?

    Erst kürzlich haben wir eine besondere Liste der erfolgreichsten Filme aller Zeiten veröffentlicht – und zwar nur mit Filmen, die nicht fortgesetzt wurden. Darauf finden sich Stand-Alone-Meisterwerke wie Christopher Nolans „Inception“, deren Reiz eben gerade auch darin liegt, dass sie dem Zuschauer am Ende Raum für eigene Interpretationen und Fragen über die Zukunft der Protagonisten lassen.

    Aber nun versuchen uns die Film- und Serienmacher mit genau dem gegenteiligen Argument zu locken - so äußerte sich „Tode Mädchen lügen nicht“-Schöpfer Bryan Yorkey etwa im Interview mit Entertainment Weekly: „Wir sahen Hannahs Version der Events, aber es gibt so viel mehr zu erzählen über die anderen Charaktere. Für mich gibt es da eine Menge Dinge, die ich noch wissen will.“

    Okay, wir wissen noch nicht, ob Tyler mit den Waffen, die er besorgt hat, eventuell einen Amoklauf plant oder ob er auf Alex geschossen hat? Wir wissen nicht, ob Alex überleben wird. Wir wissen nicht, ob Hannahs Eltern den Prozess gegen die Schule gewinnen werden? Wir wissen nicht, ob Bryce ins Gefängnis gehen wird? Wir wissen nicht, wie Clay oder Jessica die traumatischen Ereignisse verarbeiten und ihr Leben weiterführen werden?

    Und wir wollen es auch gar nicht (sicher) wissen! Es reicht uns völlig, dass wir die verschiedenen Möglichkeiten kennen – wenn sich jetzt die zweite Staffel einfach jeweils für eine davon entscheidet, was ist dadurch wirklich gewonnen?

    Denn nachdem die Kassetten abgespielt und alle Steine in Folge 13 ins Rollen gebracht sind, ist doch absolut klar: Das Leben einiger Figuren wird nun ebenfalls zur Tragödie, während andere ein Happy End erwartet! Und all das wird schon sehr eindeutig im Staffelfinale aufgedröselt: Clay fasst sich ein Herz und macht wieder einen Schritt auf Skye zu, andere Teenager wie Tyler werden von Hass und Wut womöglich zu grausamen Taten geleitet. Der Stoff hat damit sein volles erzählerisches Potential entfaltet und die Macher skizzieren – in nicht einmal besonders subtiler Weise – wie es in Zukunft wohl weitergehen wird.

    Aber das scheint den Serienmachern (und wohl auch einigen Fans) offenbar nicht zu reichen: „Wenn Leute zu verstehen geben, dass Jessicas Geschichte erledigt sei, finde ich das grauenvoll, denn sie steht erst am Anfang, ihre Vergewaltigung zu verarbeiten, und wir haben da einen Vergewaltiger, der auf keine Art zur Rechenschaft gezogen wurde“, meint Yorkey dazu.

    Dabei lässt er allerdings außer Acht, dass es keinesfalls ein Ausdruck von mangelndem Interesse an den Figuren ist, wenn man sich dafür entscheidet, eine Geschichte auch ganz bewusst mit Auslassungen und Andeutungen zu erzählen. Was wäre „Pulp Fiction“, wenn sich Quentin Tarantino dazu entschlossen hätte, den Plot chronologisch aufzubereiten und zu enthüllen, was in Marcellus Walles Koffer steckt oder warum er ein Pflaster trägt? Eben gerade das bewusste Nicht-Liefern von Antworten entfaltet manchmal die größte Wirkung.

    Und wo Yorkey schon dabei ist, mit den brisanten Themen der Serie zu argumentieren. Selbstmord und Vergewaltigung – das sind schwere, hochemotionale Inhalte, die es zum Teil fast unmöglich machen, auch kritisch über die Serie als reines Unterhaltungsangebot zu reden, ohne zynisch oder herzlos zu wirken. Doch gerade deswegen ist unser Standpunkt auch hier: Lasst die Zuschauer ihre Fragen und Ängste nach der Serie doch bitte selbst verarbeiten. Lasst sie mit Kollegen, Freunden, an Schulen und auf Plattformen im Internet selbst zusammenkommen, um darüber zu diskutieren, wie oder ob das Schicksal von Hannah hätte verhindert werden können, wer Schuld trägt, wie es für die anderen Figuren weitergehen wird oder muss. Wer möchte Bryce hängen sehen und wer argumentiert, dass auch sein Umfeld eine Mitschuld an seinen Handlungen trägt?

    Eine Fortsetzung, so wie sie angekündigt ist, wird viele dieser spannenden Fragen auflösen – und ihnen so die Sprengkraft nehmen. Wenn die Figuren aus der dunklen Phase hervortreten und wieder Hoffnung finden, wird „Tote Mädchen lügen nicht“ dann womöglich letztendlich in einem versöhnlicheren Happy End aufgelöst? Und bekommt Bryce sein Fett weg, wenn wir in Staffel 2 zu sehen bekommen, wie ihm jemand eine reinhaut (womit die Serie dann auf dem Diskurs-Niveau einer Talkshow mit Til Schweiger angekommen wäre).

    Wirklich? Dafür haben wir uns durch 13 hochspannende und aufwühlende Folgen geguckt?

    Zudem werden wohl – wie im Superheldengenre – Tote auch hier nicht lange tot bleiben! Laut Yorkey werden wir nämlich auch Hannah wiederbegegnen: „Wir werden neue Zusammenhänge für Ereignisse bekommen, von denen wir schon wissen, und werden auch Neues erfahren, um die Lücken zu füllen in Bezug auf die Frage, wer Hannah Baker wirklich war und wie ihr Leben aussah.“

    Dabei ist doch schon in der ersten Staffel genau das passiert: Der Zuschauer wird mit Aussagen und Erlebnissen aus der Sicht von Hannah konfrontiert, die sich im Laufe der Serie nicht immer als wahr herausstellen. Dabei wird schnell sehr deutlich, dass die Wahrnehmung der einzelnen Teenager sehr unterschiedlich ist – und was wir sehen, hängt immer ganz stark davon ab, wie die Protagonisten selbst gerade das Geschehen persönlich bewerten. Also soll in der zweiten Staffel im Prinzip einfach noch mal alles wieder von vorne beginnen?

    Dabei dürfte doch gerade die Unabwendbarkeit und die Unumkehrbarkeit der tragischen Ereignisse mit dafür gesorgt haben, dass Roman und Serie zu einem solchen riesigen Hit wurden! Im Buch bleibt das Ende für die anderen Figuren offen, die Serie will nun mit der nächsten Staffel einen Schritt weitergehen – und verrennt sich dabei hoffentlich nicht!

    Da passt ein Zitat von Yorkey über die Figuren seiner Serie eigentlich noch besser zu unserer Einstellung zur angekündigten zweiten Staffel: „Falsche Hoffnung ist gefährlich, aber ich glaube, es gibt immer etwas Licht, selbst in sehr dunklen Zeiten.“

    facebook Tweet
    Das könnte dich auch interessieren
    Back to Top